Texte en allemand
Proletarische Frauen, seid bereit! Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 5. August 1914.
Das Furchtbare, vor dem die Völker Europas zittern, ist Ereignis geworden. Der Krieg soll Menschenleiber, Wohnstätten und Felder zerstampfen. Österreich hat das sinnlose Attentat zwanzigjähriger serbischer Burschen gegen den Thronfolger zum Vorwand genommen für ein verbrecherisches Attentat gegen das Hoheitsrecht, die Selbständigkeit des serbischen Volkes und letzten Endes gegen den Frieden von Europa. Es will die Zeit nutzen, da Serbien schwerlich auf Hilfe vom russischen Zarismus hoffen kann. Die heldenhaften Massenstreiks des Proletariats zeigen erneut, daß Rußland die Revolution im Leibe hat. Frankreich kann den Kriegs- und Eroberungsplänen des russischen Despotismus in diesem Augenblick kaum Unterstützung angedeihen lassen. Verhandlungen im Senat haben schwere Mängel im Heerwesen gezeigt, und die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit hat das militärische Gefüge gelockert und gäfende Unzufriedenheit geschaffen. England ist durch die Sachlage in Ulster und andere Aufgaben derart in Anspruch genommen, daß es kein großes Gelüste zu verspüren scheint, an den Greueln und Verbrechen eines Weltkrieges teilzuhaben. So rechnet der österreichische Imperialismus damit, daß er den Bruch des Völkerrechts gegen Serbien verüben kann, ohne daß ihm der Dreiverband in den Arm fällt. Mit Serbiens Niederwerfung glaubt er dem Drängen des Zarismus nach dem Mittelländischen Meer den Weg zu verlegen. Die proletarischen Frauen wissen, daß die Herrschaftsausdehnung des russischen Henkerzarismus die schlimmste Sklaverei für die Völker bedeuten würde. Sie sind sich aber auch vollständig im klaren darüber, daß der österreichischungarische Imperialismus nicht das Recht und die Freiheit der Völker schützt. Er kämpft lediglich für die Interessen der reaktionären Habsburger Dynastie, für den Gold- und Machthunger der fühl- und gewissenlosen Großgrundbesitzer und Großkapitalisten. Die österreichisch-ungarische Monarchie zertritt im eigenen Hause das Recht der Nationalitäten und noch schamloser das Recht der ausgebeuteten werktätigen Massen. Trotz der wütenden Krise hat sie diesen Massen seit Jahren den nackten Lebensbedarf verteuert, hat sie mit Brutalitäten und Kniffen im Kampfe gegen Ausbeutung und Elend gehindert. Nun krönt sie ihr Werk, indem sie die Söhne der Werktätigen zwingt, zu morden und sich morden zu lassen. Sie steht nicht als Vorkämpferin für die Wohlfahrt und Freiheit der Völker auf dem Plan. Ihr Krieg darf nun und nimmer ein Morden der Völker werden. In Deutschland suchen die profit- und lorbeerlüsternen Kriegshetzer und Kriegstreiber das Volk über diese schlichte Wahrheit zu täuschen. Sie fabeln davon, daß der Krieg Österreichs letzten Endes der drohenden Barbarei Rußlands gelte, ein germanischer Kreüzzug gegen das „übermütig vorwärtsdringende Slawentum“ sei. In gewissenloser Weise brüllen sie von der Pflicht, die „deutsche Nibelungentreue“ zu wahren. Sie wollen, daß Deutschland als Dreibundmacht Österreichs Krieg zu dem seinen mache und das Blut wie den Schatz des Volkes vergeude. Der Frevel solchen Treibens ist so riesengroß wie das Verbrechen des österreichischen Imperialismus. Er will einen Weltbrand entzünden? in dem die Völker Europas sich gegenseitig abschlachten würden, während ein Händchen voll Mächtiger und Sehrreicher schmunzelnd den Vorteil einstriche. Das darf nun und nimmer geschehen. Die Proletarier Deutschlands – Männer und Frauen – müssen durch die Tat beweisen, daß sie erwacht, daß sie reif für die Freiheit sind. Ihr Friedenswille, vereint mit dem Friedenswillen des arbeitenden Volkes der anderen Länder, namentlich Frankreichs, ist die einzige Bürgschaft dafür, daß der Krieg der klerikalen Habsburger nicht zum allgemeinen europäischen Völkermord wird. Wohl versichert die Regierung des Deutschen Reiches, daß sie alles getan habe und tue, damit der Krieg lokalisiert bleibe. Aber das Volk hat erfahren, daß die Zungen der Regierungsmänner gespalten wie Schlangenzungen sind. Es kennt auch die Ungeschicklichkeit der diplomatischen Handwerker des Deutschen Reiches. Und namentlich täuscht es sich nicht über das eine: Das weltpolitische Leben ist so verschlungen und verwirrt, daß ein Zufall alles gute Wünschen und Wollen der Regierungen zuschanden machen kann. Ein Zufall entscheidet, ob der dünne Faden reißt, an dem das Schwert des Weltkrieges hängt, das den Völkern droht. Auch die Besitzenden und Machthabenden schwören feierlich, die entsetzliche Barbarei des Krieges zu hassen. Ja, auch sie zittern vor seinen Höllenschrecknissen. Und doch sind sie unablässig daran, den Krieg vorzubereiten und den Krieg zu schüren. Man höre nur, wie die linksliberale Presse im Namen aller möglichen Kulturgüter Deutschland anreizt, für Österreich mit dem Schwert einzutreten und damit unfehlbar Rußland und Frankreich zum blutigen Ringen herauszufordern. Und doch sind die Seiten dieser Presse noch feucht von den Tränen der Rührung, die sie über die Friedenspsalmen der Verständigungskonferenz deutsch-französischer Parlamentarier zu Bern [1] vergossen hat. Wie schamlos schreien nach scheußlichem Blutvergießen und Massenmord fromme christliche Blätter und Menschen, die täglich das Gebot ihres Allerhöchsten im Himmel herunterplärren Du sollst nicht töten. Alle Masken fallen, die der Vampir Kapitalismus trägt, der sich vom Blut und Lebensmark der Volksmassen nährt. Wie könnte es anders sein? Den Völkermord kann niemand als Brudermord wirklich konsequent bekämpfen, der es in Ordnung findet, daß der Kapitalismus auf seinen Altären jahraus, jahrein Hunderttausende der Volksgenossen dem Profit schlachtet. Nur das Proletariat wird seine breite Brust dem nahen Unheil des Weltkrieges entgegenstemmen. Schon würden die Schrecken dieses Krieges entfesselt sein, wenn nicht einer der skrupellosesten Völkermörder, der Zarismus, durch die politischen Massenstreiks des russischen Proletariats gehindert wäre, sich auf das langersehnte Schlachtfeld zu stürzen. Das revolutionäre Ringen unserer russischen Brüder und Schwestern hat in diesen schicksalsschweren Tagen bis jetzt den Weltfrieden erhalten. Seien wir nicht kleinmütiger und schwächer als sie. Ihr ruhmreicher Kampf ohne die Waffe gesicherter politischer Rechte, angesichts von Kerkern, Verbannung und Tod zeigt uns durch die Tat, was eine entschlossene, kühne und opferbereite Arbeiterklasse vermag. Verlieren wir keine Minute Zeit. Der Krieg steht vor dem Tor. Treiben wir ihn in die Nacht zurück, ehe sein Toben und Rütteln den letzten Rest der Sinne und des Menschlichkeitsempfindens unaufgeklärter Massen verwirrt. Heraus aus Fabriken und Werkstätten, aus Hütten und Dachwohnungen zum Massenprotest. Lassen wir den Herrschenden und Besitzenden keinen Zweifel an dem Ernst unserer Entschlossenheit, alles bis zum letzten Hauch für den Frieden dranzugeben. Die ausgebeuteten Massen sind stark genug, auf ihren Schultern den Bau der ganzen heutigen Ordnung zu tragen. Sie sind es gewöhnt zu entbehren, während der von ihnen geschaffene Reichtum vom Müßiggang verpraßt wird. Sie blicken tagtäglich um eines kargen Verdienstes willen dem Tode ins Angesicht. Und sie sollten sich zu schwach erweisen, vor dem Darben zurückschrecken, Gefahren und Tod scheuen, wenn der Kampf für Frieden und Freiheit ruft? Sie sollten einem Militarismus freie Bahn lassen, der soeben vor der breitesten Öffentlichkeit als der brutale Scherge ihrer Söhne und Brüder gestäupt worden ist? [2] Das gewaltige Friedensgebot der arbeitenden Massen muß in den Straßen das mordspatriotische Geschrei zum Schweigen bringen. Und wo zwei oder drei ausgebeutete Männer und Frauen versammelt sind, da muß der Abscheu gegen den Krieg, der Wille zum Frieden unter ihnen sein. Die Brüderlichkeit zwischen den Völkern ist für die Arbeiterklasse kein leerer Wahn, der Weltfrieden kein schönes Wort. Eine greifbare Tatsache steht dahinter: die feste Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Nationen. Sie darf es nicht dazu kommen lassen, daß Proletarier gegen Proletarier das Mordgewehr erheben. Sie muß den Massen die Entschlossenheit einflößen, im Krieg gegen den Krieg alle Waffen zu nützen, die es führen kann. Die Wucht, mit der die proletarischen Massen sich der Weltkriegsfurie entgegenstellen, wird eine gewonnene Schlacht in ihrem Befreiungskampfe sein. Die revolutionäre Energie und Leidenschaft ihres Auftretens wird sie Verfolgungen preisgeben, wird ihnen Gefahren bringen und Opfer auferlegen. Was tut es? Es gibt Augenblicke im Leben des einzelnen und der Völker, wo man nur alles gewinnt, wenn man alles einsetzt. Ein solcher Augenblick ist da. Proletarische Frauen, seid bereit!
1. Interparlamentarische Konferenz zu Bern – auf Einladung von Mitgliedern der Schweizer Nationalversammlung einberufene deutscher und französischer parlamentarier am 11. und 12. Mai 1913. der weitaus größte Teil der deutschen Konferenzteilnehmer gehörte der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an. Auch August Bebel und Karl Liebknecht nahmen an der Konferenz teil. sie fand statt, wie der Vorwärts vom 11. Mai 1913 schrieb, um „den Kriegstreibereien und der unerträglichen Steigerung der Rüstungslasten in Deutschland und Frankreich entgegenzuarbeiten“.
2. Gemeint ist die Auseinandersetzung Rosa Luxemburgs mit der deutschen Militärkamarilla in zahlreichen Artikeln und Versammlungen in der ersten Hälfte des Jahres 1914.