Franz Mehring. In: Die Rote Fahne, Nr. 18, Dienstag, 4. Februar 1919, Seite 2
Kaum, dass wir Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu Grabe geleitet, so verlischt abermals ein Stern erster Größe, der dem deutschen und dem internationalen Proletariat geleuchtet. Nicht wie jene aus der Mitte des Lebens gefällt, sondern am Abend eines langen und in sich vollendeten Lebens scheidet Franz Mehring von uns: und doch viel zu früh für seine jüngeren Freunde und Genossen. Bis zuletzt hielt ihn sein feuriges Temperament jung, seine Feder ohnegleichen lebendig. Die Schutzhaft, die der deutsche Imperialismus über den ersten Schriftsteller der Nation verhängte, gaben seiner Gesundheit einen unverwindlichen Stoß und zuletzt kam noch die schreckensvolle Untat an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, mit denen ihn nicht nur engste Kampfgenossenschaft, sondern auch persönliche Freundschaft verband (Mehring wurde im August 1916 eingesperrt. 1917 wurde er Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und wieder auf freien Fuß gesetzt. Durch Schutzhaft wurden die preußischen Behörden ermächtigt, Personen zu inhaftieren, die keine Straftaten begangen hatten, jW).
Der erste Schriftsteller der Nation – das war Franz Mehring; aber vergebens sucht man seinen Namen in einer der zünftigen Literaturgeschichten, die Bogen um Bogen füllen mit winzigsten Einzelheiten über winzigste Eintagsfliegen der bürgerlichen Literatur. Das machte: Franz Mehring kämpfte bis zum letzten Atemzug in den Reihen des Proletariats, er kämpfte immer in der Vorhut, er kannte keine Kompromisse und keine Schonung für die herrschenden Klassen Deutschlands und Preußens und er kannte sie bis in die innersten Herzfalten. Wenn es darum nur zu begreiflich ist, dass dieser intimste Kenner und Feind der preußisch-deutschen Bourgeoisie, da es keine Parade gegen diese überlegene Klinge gab, von ihr totgeschwiegen wurde, so kennzeichnet es nichtsdestoweniger die Tiefe der kulturellen Barbarei dieser Klassen, dass der erste Historiker und Kritiker der Nation ihr nichts, auch gar nichts war.
Nicht als ob wir diese Tatsache beklagten. Franz Mehring fand reichlichen Lohn für seine rastlose Arbeit in dem wachsenden Verständnis, das ihm die deutsche Arbeiterklasse und mit den sich reihenden Jahren die proletarische Internationale entgegenbrachte.
Es war ein langer, verschlungener Weg, der Mehring an die Seite der deutschen Arbeiterklasse und in die vorderste Reihe des wissenschaftlichen Sozialismus führte. (…) Die Marx, Engels, Lassalle bahnten sich über eine noch revolutionäre bürgerliche Klasse den Weg zum Sozialismus. Mehring hatte den Weg zu finden über die Trümmer bürgerlicher Demokratie, die aus dem Zusammenbruch von 1848 übriggeblieben waren. Diese kleine Schar (…) hatte sich aus dem Trümmerfall der bürgerlich-demokratischen Kultur gerettet die Kenntnis und die Achtung vor dem Erbe der deutschen Geisteskultur.
Dieses kostbare Erbe trug Mehring hinüber in die deutsche Arbeiterschaft, indem er es mit dem genial gehandhabten Werkzeug des historischen Materialismus zu neuem Leben erschuf und in künstlerische Form goss.
Das zweite große Gebiet, das er dem Marxismus und den Arbeitern eroberte, war die deutsche und speziell die preußische Geschichte. Er kannte sie in ihren kleinsten Falten, er durchleuchtete sie mit rastlosem Forschungstrieb. Und er schöpfte aus diesem Geschichtsarsenal die schneidendsten Waffen des deutschen Sozialismus.
Seine geniale historisch-kritische Anlage und sein Bildungsgang bestimmten ihn zum Historiker des deutschen Sozialismus, zum Biographen von Marx, Engels, Lassalle. (…)
Die sichere historische Orientierung, das war es auch, was Mehring als politischer Schriftsteller der deutschen Arbeiterbewegung gab.
Dieser tiefe und lebendige historische Sinn, wie der feurige Kampfgeist, der ihn beseelte, ließ ihn alsbald die engen Schranken der deutschen Sozialdemokratie durchbrechen, sobald sie zu einem Hindernis des geschichtlichen Fortschritts geworden war; und er ließ ihn, vielleicht noch schärfer, die kritische Klinge führen gegen jene Halben und Konfusen, in denen er mit Recht das gefährlichste Hindernis für den Vormarsch der Arbeiterklassen sah.
Mehrings politische Wirksamkeit im Kampf gegen den deutschen Imperialismus ist in aller Gedächtnis. (…) Das Erbe des großen Künstlers und Kritikers wird das Proletariat erst dann voll antreten, wenn es, seiner Ketten frei, sich zu voller freier Menschlichkeit wird aufrichten können.
Am 28. Januar 1919 starb der marxistische Publizist und Politiker Franz Mehring (geb. 1846) in